Brief aus Nebraska City (1) – Inken Reinert
Am Montag, dem 29. September bin ich in Nebraska City angekommen, nachdem ich ein paar Tage in Chicago verbracht habe. Der Kontrast war enorm. In den ersten Tagen bin ich von den Eindrücken überwältigt, seltsamerweise viel mehr als ich es in Chicago war. Denn hier bin ich wirklich mitten in den USA, auf dem platten Land, in der uramerikanischen Provinz, im Heartland. Nebraska City hat ca. 7000 Einwohner. Die beiden am nächsten gelegenen Städte sind Lincoln und Omaha, beide jeweils eine Autostunde entfernt.
Warum eigentlich überwältigt? Es ist die Summe all der Beobachtungen, Erlebnisse, der Geräusche und Gerüche. Ich merke, wie mein Hirn bemüht ist, all das einzuordnen, mit Klischees abzugleichen, die ich im Kopf habe. Ich liege regelrecht auf der Lauer: Da, der Typ in dem Pickup mit dem ZZ Top Bart, der lässig die Hand zum Gruß hebt, und dort – der rostige Dodge in einer Einfahrt.
Es sind die Farben, die mir das Gefühl verleihen, ich befände ich mich in einem Foto von William Eggleston. Ja, das alles habe ich schon mal auf Fotos oder in irgendwelchen Filmen gesehen, jedoch mittendrin zu stehen, wirkt erst einmal surreal. Es sind die riesigen Pickups, die laut röhrend überall herumfahren, deren Kühlerhauben mir fast bis zum Kinn reichen, die Fassaden, die pittoresken, direkt auf die Häuserwände gemalten Werbungen im Vintage Stil.
Und es sind die kleinen Gespräche in den ersten Tagen, die mich sehr berührt haben – z.B. das mit einem liebenswürdigen älteren Herrn in einem der Antik-Shops. Der Einstieg: Er zeigt mir, was er gefunden hat. Ein winziges altes Werkzeug, um Kupferrohre zu schneiden, das wie ein Vogelei In seiner Hand liegt. Wo ich herkomme – Deutschland. Auch er habe deutsche Vorfahren – er heißt Klein.
Schnell kommen wir aber auf ernstere Themen zu sprechen. Es ist Ende September und die Temperatur liegt bei über 30 Grad – das ist auch hier ungewöhnlich. Er spricht davon, dass es weniger Eichhörnchen und Vögel gäbe. Und schnell geht es auch um die Immigrationspolitik der aktuellen Regierung. Er wirkt tief besorgt. 90 Prozent aller Amerikaner seien Immigranten – Dieses Land würde ohne sie gar nicht existieren.
Solche Gespräche wirken lange in mir nach. So kurz sie auch sind – es überrascht mich, wie offen viele über diese Themen in solch einem spontanen Gespräch reden.
In der Central Ave, die sich von Ost nach West quer durch Stadt zieht, befinden sich die meisten Geschäfte des Ortes. Weit und breit ist kaum jemand zu sehen, nur hin und wieder ein Auto und ich frage mich, wie sie ihren Umsatz machen. Es gibt eine ganze Reine von Antiquitätenläden, die allerdings nur an den Wochenenden aufmachen. Nördlich und südlich der Centra Ave befinden sich die Wohnviertel. Wie ein großer sattgrüner Teppich bedeckt Rasen alles, was nicht Straße ist. Darauf – locker gestreut – große alte Bäume. Dazwischen stehen die Holzhäuser, die nicht wie gebaut wirken, sondern als seien sie auf dem Rasen abgesetzt worden.
Die Grundstücke sind nicht durch Zäune voneinander getrennt – das verstärkt den parkartigen Charakter, denn man hat eine ganz andere Tiefenstaffelung als z.B. in der typischen deutschen Reihenhaussiedlung. Es wirkt irgendwie offener, heiterer auf mich. Nur der allgegenwärtige sehr dichte, sehr grüne und sehr kurze Rasen verstört mich. Hier blüht kein Kräutlein.
Das Internet verrät mir später:
– Maximalhöhe des Grases (z. B. 4 Inches ≈ 10 cm).
– Wildblumen oder „unkontrolliertes Wachstum“ sind verboten
– Es gibt regelmäßige Kontrollen oder Inspektionen und bei Verstößen drohen Verwarnungen
und Geldstrafen – im Extremfall sogar Zwangsmaßnahmen (z. B. Beauftragung eines Gärtners auf deine
Kosten). Daher hört man auch von früh bis spät immer irgendwo das Dröhnen der Rasenmäher und man sieht sie vor, neben oder hinter den Häusern stehen, oft sogar zwei. Und gleich daneben … ein riesiger Pickup.