Die Kunst der Anderen / Gespräch mit Prof. Susanne Leeb -old

Sie haben zum Thema Kategorisierungen von außereuropäischer Kunst geforscht. Dazu ist ihr Buch „Die Kunst der Anderen“ erschienen. (1) Der Titel ist reich an Assoziationen. Wer sind die Anderen? Wer spricht da, von welchem Standort aus? Wie kam es zu dem Titel?

Es ging darum, dass„diese sogenannte andere Kunst oder eben Kunst der Anderen keine andere Funktion hatte, als das Andere zu sein, zum „Anderen“ gemacht wurde, um einen europäischen Kunstbegriff davon abzugrenzen, ihn also erst zu konstituieren. Eigentlich ist es eine Leerstelle, die gar nicht positiv gefüllt werden kann, weil es nicht die Funktion war, sich damit auseinander zu setzen.

Ihr Buch kann als eine kritische Revision der im 19. Jahrhundert etablierten Annahmen über die Kunstrezeption nicht europäischer Artefakte gelesen werden. Zur Zeit des Kolonialismus geht alles ineinander über – wissenschaftliche Entdeckungen, Expeditionen und auch die entstehende Kunstwissenschaft ist davon beeinflusst. So wurde z.B. Charles Darwins „Die Entstehung der Arten“ (1859) und sein Entwicklungsmodell auf Kulturen und Künste angewandt. Dichotomien entstanden wie die der Kultur- und Naturvölker.

Ich habe neulich mit einem Kunsthistoriker aus dem Senegal, Malick Ndiaye, gesprochen, der meinte, die Kunstgeschichte in ihren Anfängen sei eine rassistische Wissenschaft, weil sie sich an den Gesetzen der Naturwissenschaft orientierte, die wiederum mit der Evolutionsbiologie eng verstrickt gewesen war. Das Problem war ja, dass sich die Geisteswissenschaften bis hin zur Psychoanalyse als Wissenschaft legitimieren mussten. Und das Standardmodell war die Naturwissenschaft.
Genauso war die Kunstgeschichte an den gleichen Parametern orientiert. Wissenschaftlichkeit hieß, Gesetzmäßigkeiten herauszufinden und nach diesen die Künste in ihrer Entstehung einzuteilen und zu klassifizieren. Diese Gesetzmäßigkeit gab es z.B. in der Evolutionsbiologie, in der die Entwicklung der Arten vom Einzeller zum Mensch als aufsteigende Linie gedacht wurde und nicht jede Spezies ihre Gleichberechtigung hat.

Tuli Medondjo © Tim Schnetgöke

Die Kunstgeschichte hat ihre Gegenstandsbereiche genauso klassifiziert, die Künste meistens nichteuropäischer Völker wurden am Anfang platziert und die europäische Hochkunst am Ende dieser Entwicklungslinie konstruiert. Es sind diese Hierarchien, die heute noch in Bewertungsmaßstäben mitschwingen. Die Kunstgeschichte hat ihre Gegenstandsbereiche genauso klassifiziert, die Künste meistens nichteuropäischer Völker wurden am Anfang platziert und die europäische Hochkunst am Ende dieser Entwicklungslinie konstruiert. Es sind diese Hierarchien, die heute noch in Bewertungsmaßstäben mitschwingen.

Tuli Mekondjo – Performance im Pavillon © Tim Schnetgöke

Ja, das ist symbolisch. Es gibt heute die Meinung, dass all diese Trennungen, die da eingezogen wurden, fallen sollten. Auffällig sind da die Umbenennungen von Ethnologischen Museen in z.B. Museen der Künste der Welt.

Allein eine Namensänderung bringt gar nichts, solange die Strukturen sich nicht verändern und die Weise des Umgangs mit den Objekten. Im Gegenteil, ich kann die Frage stellen, warum sind die ehemaligen Ethnologischen Museen die Welt? Sind die europäischen Künste nicht die Welt? Gleichzeitig ist das Bemühen sehr groß, vor allem bei den Museumsdirektorinnen, z.B. Nanette Snoep am Rautenstrauch-Joest Museum in Köln oder Barbara Plankensteiner am MARKK in Hamburg oder Wayne Modest in Amsterdam, die ganz fantastische Arbeit machen und diese Museen neu denken, die Objekte nicht mehr unbedingt als Kunst oder ethnologische Artefakte ausstellen, sondern überlegen, welche

zeitgenössischen Diskussionen können wir anhand dieser Objekte führen? Sei es in der Frage von Dekolonialisierung oder in der Frage des Klimawandels. Sie versuchen auch zeitgenössische Künstlerinnen einladen, um mit den Sammlungen umzugehen.
Manche ethnologischen Museen sind progressiver als die Kunstmuseen, weil diese nach wie vor die Trennung aufrechterhalten: Was sind ethnologische Artefakte, oder was ist Kunst? Kulturwissenschaftliche Ausstellungen, wo der Status der Kunst hinterfragt wird, sind dort seltener als in ethnologischen Museen.

Diese Dichotomie müssen hinterfragt werden. Kunst ist ein Wertbegriff und Ethnologisches Museum ein europäisches wissenschaftliches Paradigma. Das sind zwei unterschiedliche Ebenen und gleichzeitig scheint es eine Trennung zu sein.

Ausstellung „Folgen des Kolonialismus in der gegenwärtigen Kunstpräsentation“ © Tim Schnetgöke

indigene Künstlerin (anonym) © Tim Schnetgöke

Sie beschreiben, wie die im 19. Jahrhundert geschaffenen Kategorisierungen Ausschlüsse produziert haben. Bis heute ist es z.B. auch für indigene Künstler:innen schwer, Zugang zum Kunstmarkt zu finden.

Ich würde auch sagen, dass es immer noch ein Erbe bestimmter Klassifikationssysteme gibt. Es fing damit an, dass die Herstellerinnen und Hersteller der Objekte völlig irrelevant waren und die meisten Artefakte namenlos gesammelt wurden, als „Ethnie“, selbst ein europäischer rassistischer Begriff – wie auch immer er angeeignet oder umdefiniert wurde. Die Artefakte jedenfalls wurden nur als Stellvertreter einer bestimmten Gesellschaft angesehen und deren Produzentinnen nie ernst genommen. Gleichzeitig gab es eine Überführung aus einem bestimmten kulturellen Zusammenhang in ein ethnologisches Objekt.
Es muss verschifft werden, klassifiziert, konserviert, es muss ausgestellt oder archiviert werden. Das ist eine totale Transformation von einem Objekt in einen anderen Zusammenhang. Es kann auch ganz falsch sein, weil viele Objekte nach unserem Verständnis Subjekte in der Herkunftsgesellschaft waren.
Es führt kein Weg dran vorbei, die Produzentinnen ernst zu nehmen, zu schauen, welche komplexen Verfahren da am Werk sind, welchen Ort sie in den Herkunftsgesellschaften haben, und was man damit hier und heute machen kann.

Welche Rolle spielt in dem Zusammenhang noch der Begriff des Traditionellen?

Er ist nicht mehr so stark klassifiziert wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert, aber wir sprechen ja immer noch von traditioneller Kunst oder traditionellen Riten. Das ist vor allem für den Tourismus wichtig. Aber dass diese sogenannte traditionelle Praxis auch eine zeitgenössische Weise des Lebens ist, die auf eine andere Weise lebt und nicht in dem europäischen Fortschrittsparadigma aufgeht, sondern eine andere Beziehung zu Land, zu Wasser, zu Menschen, zu Tieren aufrechterhalten hat, wir heute wieder wichtig. Jetzt wird eher gefragt, welches Wissen wurde eigentlich damals praktiziert? Was waren die Formen von Koexistenz auf diesem Planeten von unterschiedlichen Lebensformen? Dieses Wissen würden wird heute als viel progressiver beurteilen, nicht als progressiv im Sinne eines technologisch wissenschaftlichen Fortschritts, sondern in der Weise der Erhaltung der Ressourcen, des Zusammenlebens, der Koexistenz auf diesem Planeten. Vielleicht sollte der Kunstbegriff für eine Weile abgeschafft werden, um zu schauen, was an sinnlich materiellen oder materiellen intellektuellen Praktiken auf dieser Welt passiert, um diese Hierarchien nicht permanent wieder aufzumachen.
Was verstehe ich eigentlich unter zeitgenössischer Kunst? Es ist zuallererst die Möglichkeit eines Aktions- und eines Artikulationsraums.
Und viel höher würde ich das gar nicht hängen, sondern es ist die Möglichkeit, in eine zeitgenössische Gesellschaft, in welcher Weise auch immer qua einer spezifischen Praxis zu intervenieren und dafür das zu verwenden, was es braucht, um etwas zu artikulieren oder bestimmte Zusammenhänge klar zu machen. Kunst tut das mit ihren Mitteln, Bildsprachen, Materialitäten, Intellektualitäten. Was genau das ist, ist dann eine Frage der jeweiligen Position.

Susanne Leeb / Professorin für zeitgenössische Kunst am Leuphana Institute for Advanced Studies in Culture and Society an der Leuphana Universität Lüneburg.

Das Interview führte Susanne Gupta (Koordination artothek berlin)

Anmerkungen

1 Susanne Leeb: Die Kunst der Anderen.: „Weltkunst“ und die anthropologische Konfiguration der Moderne, b_book Reihe PoLYpen, Berlin 2015

2 Die postkoloniale Stadt lesen.Historische Erkundungen in Friedrichshain-Kreuzberg
Mark Terkessidis und Natalie Bayer (Hrsg.),Verbrecher Verlag, Berlin 2022

Das Interview zur Ausstellung: Workshop – Ergebnisse im Pavillon am Milchhof: Folgen des Kolonialismus in der gegenwärtigen Kunstpräsentation 17.05.-21.05.2023 im Rahmen der Veranstaltungsreihe artothek berlin – Dialoge 2023.

Foto: Performance der namibischen Künstlerin Tuli Mekondjo anlässlich der Ausstellung © Tim Schnetgöke

    

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